“Dieser ging gerechtfertigt nach Hause”

 ■ Wenn man die Texte des Evangeliums liest und sie richtig verstehen will, dann darf man nicht bloß oberflächlich darüber hinweglesen, auch wenn man meinen sollte, man kenne ja bereits hinreichend den Text. Will man den genauen Sinn der Worte Jesu erkennen, muss man sich schon die Mühe machen, auch die einzelnen Formulierungen aufmerksam zu betrachten und sie in ihren gegenseitigen Zusammenhängen zu analysieren.
So unterteilen wir ja die Menschen in einer bestimmten Hinsicht in zwei große Gruppen. Auf der einen Seite gibt es für uns Menschen, die entweder nicht gläubig sind, (noch) nicht das Licht Jesu Christi, des göttlichen Erlösers, erkannt haben, oder, sollten sie bereits getauft worden sein, nicht in der Gnade Gottes leben bzw. diese durch die Verwicklung in schwere Sünde leider wieder verloren haben. Und zur anderen Gruppe zählen wir jene Menschen, die sowohl an Gott glauben und Jesus Christus als die Inkarnation der Zweiten Person der Allerheiligsten Dreifaltigkeit bejahen als auch sich im Stand der heiligmachenden Gnade befinden und Glieder der wahren katholischen Kirche sind. “Durch diesen wird euch die Vergebung der Sünden verkündet, und vor allem, wovon ihr durch das Gesetz des Moses nicht gerechtfertigt werden konntet, wird durch diesen ein jeder gerechtfertigt, der da glaubt.” (Apg 13,38f)
Selbstverständlich ist eine solche Aufteilung berechtigt, sie stimmt sehr wohl mit zentralen Aussagen der christlichen Offenbarungsreligion überein. Jesus Christus ist nämlich jener “Eckstein”, in welchem allein das Heil ist (vgl. Apg 4,11f) und an dem sich eben die Geister scheiden. “Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet werden; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden.” (Mk 16,16) So ist der Glaube an Jesus Christus als den menschgewordenen Sohn Gottes und den einzigen Erlöser der Menschen das entscheidende Merkmal jener Menschen, die die Rechtfertigung in Gott gefunden haben und in der beseligenden Gemeinschaft mit Gott leben!
Dennoch gibt es im heiligen Evangelium eine Stelle, in welcher von Jesus in diesem Zusammenhang ein bestimmter Gesichtspunkt präzisiert bzw. eine Nuance hervorgehoben wird. Es handelt sich hierbei um jene Stelle, in welcher von zwei Männern die Rede ist, die “in den Tempel hinauf gingen, um zu beten. Der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stellte sich hin und betete für sich also: ‘Gott, ich danke Dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen, wie die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder wie auch dieser Zöllner da. Ich faste zweimal in der Woche, und gebe den Zehnten von allem, was ich erwerbe.’ Der Zöllner aber blieb von ferne stehen und mochte nicht einmal die Augen zum Himmel erheben; sondern schlug an seine Brust und betete: ‘Gott, sei mir Sünder gnädig!’ Ich sage euch: dieser ging gerechtfertigt nach Hause, jener nicht. Denn jeder, der sich erhöht, wird erniedrigt, wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.” (Lk 18,10-14)
Nun, es wird hier zunächst klar der Unterschied im bisherigen Lebenswandel der beiden betreffenden Personen herausgestellt. Der Zöllner war ein Mensch, der offensichtlich von Sünden geradezu beladen war - diese werden nicht einzeln aufgelistet. Der Pharisäer unterschied sich dagegen von ihm dadurch, dass er sich weder diese Vergehen des Zöllners hat zuschulden kommen lassen, noch dass er für einen “Räuber, Betrüger, Ehebrecher” gehalten werden konnte bzw. durfte.
Und dennoch scheint Jesus dann diese Tatsache in gewisser Hinsicht gänzlich zu vernachlässigen. Er wendet sich nicht der Frage zu, wer wie vorher gelebt hat, sondern stellt einfach fest, dass der Zöllner, der ja so manches auf dem Kerbholz hatte, “gerechtfertigt nach Hause ging”, der Pharisäer dagegen, der bezüglich derselben moralischen Fragen wohl doch eine reine Weste vorzuweisen hatte, eben nicht.
Ja, Jesus berücksichtigt hier deren bisherige Lebensleistung überhaupt nicht. Er lässt hier, in dieser ganz konkreten Situation, unseren Blick nicht auf die etwa vorhandenen oder eben fehlenden “Vorleistungen” der beiden Männer richten, sondern schwerpunktmäßig auf die Frage, wie sie sich jetzt und hier im Tempel jeweils verhalten! Der Zöllner hat sich zwar schwer gegen Gott und die Menschen versündigt, aber er bereut auch seine Untaten aufrichtig, wendet sich bewusst und ehrlich Gott zu und sucht mit Nachdruck dessen Vergebung. Daher erlangt er auch vor Gott die “Rechtfertigung!
Dem Pharisäer dagegen verhilft seine bisherige so genannte “reine Weste” überhaupt zu nichts. Denn er wendet sich in diesem entscheidenden Augenblick im Tempel eben nicht Gott zu und sucht nicht dessen heilende und erlösende Gnade, sondern stellt sich selbst in den Mittelpunkt seines “Gebetes” und beweihräuchert, und dazu noch ausschließlich, seine eigenen “Verdienste”. Statt Gott zu verehren und um die Vergebung seiner sonstigen Sünden zu bitten, betet er praktisch seine eigenen Leistungen an - er ging eben nicht “gerechtfertigt nach Hause”!
■ Selbstverständlich hat die von uns oben gemachte Aufteilung der Menschen in die Gruppe der in der Gnade und der außerhalb der Gnade Christi bzw. Gottes lebenden Menschen ihre Berechtigung. Natürlich sind bei Gott sowohl alle unsere Taten als auch Untaten genau aufgelistet und werden bei Seinen Gerichten berücksichtigt. Aber dennoch muss es uns auch klar sein, dass wir uns niemals etwa auf dem bisher Erreichten ausruhen dürfen, als ob uns unsere Leistungen von gestern oder vorgestern zu heutigem Nichtstun oder Faulenzen berechtigen würden.
So erwartet von uns der Herr, dass wir uns Ihm jeden Tag von neuem zuwenden, Ihn täglich neu suchen. Was wir gestern an Gutem und Gottwohlgefälligem getan haben, das war gestern - das ist bei Ihm gut aufgehoben. Aber heute, in der neuen Gegenwart, sollen wir von neuem geistig aufbrechen und den Bräutigam unserer Seele mit der ganzen Sehnsucht unseres Herzens suchen!
Wenn zwei Menschen miteinander in den heiligen Stand der Ehe eintreten und vor Gott und der Kirche ein gegenseitiges Ja zu einander sagen, dann genügt es nicht, dass dieses Ja von ihnen nur einmal in einem feierlichen Akt gesagt und dann etwa wieder vergessen oder unbeachtet werde. Nein, die Eheleute müssen sich jeden Tag von neuem bewusst und willentlich einander zuwenden, um im Stande zu sein, ihre Liebe zu erneuern bzw. zu aktualisieren. Nur auf eine solche Weise kann dann auch ihre gegenseitige Zuwendung weiter reifen bzw. immer tiefere Wurzeln schlagen. Nur so werden sie dann auch in die Lage versetzt, so manche Stürme zu überstehen, die praktisch ständig auf uns lauern, ohne dass sie oder ihre Liebe daran zerbrechen oder nennenswerten Schaden nehmen.
Und jeder weiß, welcher großen Gefahr die Eheleute sich aber aussetzen, wenn sie nicht willens sein sollten, aufmerksam einander zuzuhören, sich miteinander auszutauschen, aufopferungsvoll für einander da zu sein - tatsächlich das Leben miteinander zu teilen! Die traurigen Folgen der fehlenden Teil- bzw. Anteilnahme am Leben des jeweils anderen Ehepartners stellen sich dann praktisch unweigerlich ein: man lebt mehr nebeneinander statt miteinander, man versteht sich immer weniger, man entfremdet sich gegenseitig - die Liebe erkaltet und geht zu Bruch.
■ Verhält es denn in unserer Beziehung zum Herrgott grundsätzlich viel anders? Als die zwei Jünger von Emmaus Jesus am Auferstehungstag begegneten und Ihn zunächst nicht erkannten, sprachen sie später, “als ihnen die Augen aufgingen”: “Brannte nicht unser Herz in uns, als Er unterwegs mit uns redete und uns die Schrift erschloss?” (Lk 24,31f) So “brannte” vielleicht auch schon in uns “das Herz”, als wir früher bereits Momente intensiver Gottesbegegnung erlebten. Und wie haben diese uns dann zu solchen Werken der Gottes- und Nächstenliebe geradezu angetrieben, welche wir sowohl in aller Aufrichtigkeit als auch mit der vollen Hingabe vollbrachten! Wir wussten, das ist es, was unser Herz sucht, das ist es, wonach wir mit unserer Sehnsucht streben - unser Herz jubelte geradezu voll Freude im Herrn!
Aber leider mussten wir - wegen der Schwäche der menschlichen Natur - wohl alle schon auch die Erfahrung machen, wie schnell in unserer Seele die Glut des göttlichen Feuers entweichen kann, wenn man nicht sozusagen ständig am Ball bleibt, wenn man nämlich die Zügel streifen bzw. den Schlendrian einziehen lässt. Schon eine kurze Weile später kann in unserem Herzen eine merkliche “Abkühlung” stattfinden oder vielleicht sogar eine richtige geistige Leere entstehen, welche ihre Ursache eben in unserer Unbeständigkeit im Guten, in unserem Nachlassen des guten Eifers haben. Da sehen wir, dass es nicht reicht, sich auf der Leistung der Vergangenheit oder auch nur des gestrigen Tages auszuruhen. Gott will auch heute unser Herz - dies allein entscheidet, ob wir auch heute “gerechtfertig” bleiben bzw. sozusagen “gerechtfertigt” nach Hause gehen können oder eben die Gnade Gottes leider verspielen.
Es könnte mühsam erscheinen, sich jeden Tag von neuem anzustrengen, seine Kräfte täglich von neuem zu mobilisieren, immer wieder die doch kraftkostende werktätige Hingabe an den Herrgott zu wiederholen. Dies ist wohl nicht zu verneinen, diese Erkenntnis hält wohl auch nicht wenige Christen davon ab, ihrer so genannten “ersten Liebe” zu Jesus treu zu bleiben und sich nicht durch das Nachgeben den Versuchungen dieser Welt gegenüber von Ihm abzuwenden.
Aber wie soll man denn zum Beispiel einer Mutter oder einem Vater, die ihre Kinder lieben, überhaupt den Sinn der Frage erklären, warum sie denn bereit seien, alles für ihre Kinder zu tun, sich für sie notfalls regelrecht aufzuopfern. Denn die echte und uneigennützige Liebe ist die Rechtfertigung ihrer selbst und lässt die sie praktizierenden Menschen immer tiefer in das Edle ihres Wesens eindringen und solcher geistiger Reichtümer teilhaftig werden, welche ihnen sonst wohl verschlossen blieben!
So findet dann aber auch eine jede gottliebende Seele ihren Schöpfer und Erlöser immer wieder von neuem, wenn sie sich die Mühe macht, jeden Tag nach Ihm aufzubrechen und Ihn zu suchen. Zwar kostet das bisweilen sogar sehr viel Kraft. Aber die tiefe Freude des Herzens, heute wieder von neuem einen unendlich wertvollen Schatz gefunden zu haben, wie der Herrgott ihn nämlich für unsere Seele darstellt, entschädigt dann bei weitem unsere dafür aufgebrachte Anstrengung! Wie groß ist denn die Freude eines kleinen Kindes oder dessen Eltern - und zwar jeden Tag von neuem! -, wenn sie einander begegnen und in die Arme schließen können!
Man bedenke dabei auch, mit welcher Zielstrebigkeit der “Kaufmann” des Evangeliums die “edle Perle suchte. Als er eine kostbare Perle fand, ging er hin, verkaufte all seine Habe und kaufte sie.” (Mt 13,45f) Er setzte alles daran, diese Perle zu finden. Und als er sie dann tatsächlich fand, zögerte er nicht, alles auf eine Karte zu setzen - er gab alles andere auf und fühlte sich als der glücklichste Mensch auf Erden, obwohl er außer jener Perle sonst nichts besaß!
So werden auch wir in einem gewissen Umfang wachsen und reifen, wenn wir tagtäglich ebenfalls zielstrebig jene edle Perle suchen. Vielleicht wächst dann unser Leben ebenfalls, bildlich gesprochen, zu einem Baum der Gotteserkenntnis und -liebe heran, der dann mit Hilfe der Gnade Gottes vielleicht auch einem stärkeren Sturm wird erfolgreich Widerstand leisten und hundertfältige Frucht bringen können (vgl. Mt 13,23)!
In der Geheimen Offenbarung des hl. Apostels Johannes wird der Seher beauftragt, “der Gemeinde von Ephesus mitzuteilen: “Ich kenne deine Werke, deine Mühsal und deine Ausdauer. Ich weiß, dass du die Bösen nicht ertragen kannst und dass du jene, die sich fälschlich für Apostel ausgeben, auf die Probe gestellt und sie als Lügner befunden hast. Auch hast du Ausdauer, hast um meines Namens willen gelitten und bist darin nicht müde geworden. Aber Ich habe gegen dich, dass du deine erste Liebe nicht mehr hast. Bedenke, von welcher Höhe du herabgesunken bist! Geh in dich und vollbringe wieder Taten wie früher. Sonst komme Ich über dich und stoße deinen Leuchter von deiner Stelle, wenn du nicht in dich gehst.” (Offb 2,2-5)
Diese bitterernsten Worte geben uns wohl allen hinreichend Grund zum Nachdenken, ob wir denn bisher wirklich alles getan haben, wozu wir eigentlich fähig wären, um Gott von Herzen die Ehre zu erweisen! Treten wir wie jener Zöllner beschämt vor das Angesicht Gottes, welcher wegen Seiner Größe und Heiligkeit auf der einen und des eigenen Versagens auf der anderen Seite nicht einmal wagte, seine Augen zu Ihm zu erheben. Schlagen wir ebenfalls in Demut und Bescheidenheit auf die Brust und wiederholen wir voll Inbrunst unseres Herzens das schlichte wie wunderbare Gebet: “Gott, sei mir Sünder gnädig!”
Denn “wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Bekennen wir aber unsere Sünden, so ist Er treu und gerecht. Er vergibt uns die Sünden und macht uns rein von allem Unrecht.” (1 Joh 1,8f) So haben wir täglich Grund und Anlass, Gott um Vergebung unserer sittlichen Vergehen bzw. unserer unzureichenden Liebe zu Ihm zu bitten, Ihn um Seine Barmherzigkeit sowohl für uns selbst als auch für die anderen Menschen anzuflehen. Und wenn wir uns aufmachen, uns Ihm täglich auf die entsprechende Weise zuzuwenden, werden wir auch täglich sowohl Seine himmlische Gnade verkosten als auch Sein göttliches Erbarmen mit uns erfahren, was es nämlich heißt, “gerechtfertigt nach Hause” zu gehen!

P. Eugen Rissling

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